Karin Elise Sturm und ihre Kunst
von Clara Kaufmann
Karin Elise Sturms Kunst ist kraftvoll, aufwühlend und erschütternd. Aber auch witzig, frei und surreal. Die Kraft und Qualität ihrer Bilder generiert sich nicht aus technischer Kunstfertigkeit, betörendem Realismus oder intellektueller Abstraktion, sondern aus Authentizität und Direktheit, Bedingungslosigkeit und Konsequenz. Die Bilder haben eine Dringlichkeit, sie drängen Sturm geradezu, ausgedrückt zu werden, und das spürt man als Betrachter*in.
Karin Elise Sturms Zeichnungen sind eine ambivalente Mischung aus barocker Opulenz im Inhalt und roher Kargheit in der Technik. Und das ist auch gut so – würde die Dichte ihrer Inhalte auch noch opulent zum Ausdruck kommen, würde es die Betrachter*innen wohl überfordern.
2014 hat Karin Elise Sturm eine Technik für sich entdeckt, die dieser speziellen Mischung in die Hände spielt: Das Zeichnen auf dem Smartphone bzw. Tablet. Karin Elise Sturm verwendet dafür das vorinstallierte Notizprogramm – kein aufwendiges Zeichenprogramm, keine fancy Funktionen oder chichi Filter. Nur die leere, kalte Weißheit der digitalen Leinwand, und darauf einfache, dynamische Strichzeichnungen – diese klaren, harten digitalen Striche, die keinen Wackler verzeihen, keine Unsicherheit verschleiern. Auch wenn Karin Elise Sturm in manchen der Zeichnungen verschiedene Tiefenebenen anlegt, scheinen sich dabei eher verschiedene Flächen(ebenen) über- und auch ineinander zu schieben. Die Gesamterscheinung bleibt doch ganz in der Fläche. Mir drängt sich hier das englische Wort „plain“ in den Sinn. Ein Blick ins Wörterbuch verrät, dass „plain“ nicht nur „flach“ bedeutet, sondern auch einfach, unverziert, klar, unmissverständlich, rein, unverfälscht, unverdünnt, ausgesprochen, ungehindert, ununterbrochen, frei… Überraschenderweise könnten all die angeführten Adjektive Sturms Kunst beschreiben – auch wenn man der Vollständigkeit halber noch die jeweiligen Antonyme danebenstellen müsste, um Karin Elise Sturms Zeichnungen gerecht zu werden. Denn die lassen sich nicht so leicht auf einen Nenner bringen.
Die Flächigkeit ihres Stils steht im diametralen Gegensatz zur Tiefe ihrer Bildinhalte. Vielleicht sind die Bilder auch deswegen formal so flächig, weil die Inhalte allein schon genug Tiefe mitbringen? Sie werden aus Karin Elise Sturms (Unter)Bewusstsein direkt auf die Bildfläche projiziert – sie brauchen keine Tiefe, weil sie Tiefe sind. Es scheint, als würde der Stift in der Hand der Künstlerin sofortigen und unverzüglichen Zugang zu einem Kontinuum zwischen unbewussten und bewussten Gedächtnis-, Gefühls- und Wahrnehmungsinhalten verschaffen, die sich sonst meist nur im Schlaf zeigen. Andere träumen, Karin Elise Sturm zeichnet. Dabei hat sie – so wie eben auch beim Träumen – nur bedingt Einfluss auf das, was dabei auftaucht und geschieht. Banale Alltagseindrücke mischen sich mit schwerwiegenden Erlebnissen, es entstehen surreale Mischungen, über die die Künstlerin oft selbst überrascht ist und deren Bedeutung sich auch ihr nicht unbedingt entschlüsselt.
Dass Sturm das Zeichnen so direkten Zugang zu inneren Themenstellungen verschafft, hat sicherlich mit dem Weg zu tun, der sie zur bildenden Kunst brachte. Anfangs waren Malen und Zeichnen Instrumente der Trauma Aufarbeitung für sie. Die nonverbale Ausdrucksform ermöglichte es, das Unaussprechliche zu konfrontieren und jahrzehntelang verdrängte innere Bilder an die Oberfläche des Bewusstseins zurückzuholen und zu bearbeiten. Wenn man so malt, ist jeder Strich von Bedeutung, von Emotion erfüllt, da gibt es keine Beliebligkeit. Karin Elise Sturms Weg zur Kunst führte also nicht über eine Akademie, sondern über den Schmerz. Inzwischen hat sie sich das Malen als künstlerisches Ausdrucksmittel jenseits des Traumas erschlossen. Doch die Direktheit, die Relevanz und Intensität im Ausdruck sind geblieben, genauso wie Karin Elise Sturm es sich erhalten konnte, das Zeichnen mehr der Hand als dem Kopf zu überlassen. Nicht der Intellekt entscheidet, was sie zeichnet, sondern die Intuition.
Über die vielen Jahre, die Karin Elise Sturm nun schon zeichnet, hat sie eine ihr ganz eigene, originäre Bildsprache entwickelt, die hohen Wiedererkennungswert hat. Dazu zählt ein Vokabular an Kürzeln und Formen, die immer wiederkehren, wie zum Beispiel Spiralen, die manchmal geradezu fadenkreuzartige Anmutung bekommen, und abstrahierte Figuren, ähnlich Kopffüßern, die oft in mehr oder weniger großer Zahl die Bilder bevölkern. Auch eine skylineartige Silhouette ist häufig zu erkennen, die auf Sturms Sehnsuchtsort New York verweist, sowie eine in starker Verkürzung in die Tiefe führende (und doch in die Fläche gespannte) Straße. Den Betrachter*innen erschließt sich die Bedeutung der zeichenhaften Kürzel nicht eindeutig, es bleibt etwas Geheimnisvolles an ihnen – man weiß nicht, WAS sie bedeuten, aber man spürt, DASS sie etwas bedeuten. Diese Kürzel interagieren mit den Hauptakteuren von Sturms Bildern, meist sind das Menschen und/oder Tiere, aber auch Bäume, Berge oder Bauwerke. Darüber hinaus spielt Schrift immer wieder eine Rolle, manchmal wird der Bildtitel raumgreifend in großen Lettern beinahe brutal direkt ins Bild gesetzt.
Karin Elise Sturms Zeichnungen nähren sich aus ihren Alltagseindrücken, sei es unterwegs auf Reisen, daheim in Wien oder ganz unaufgeregt zu Hause beim Netflixen oder Nachrichten-Schauen. Ein Detail springt ihr ins Auge, will gezeichnet werden, und zwar sofort. Im Bild wird das Detail zum Hauptakteur, wird es aus dem ursprünglichen Zusammenhang genommen und völlig neu kontextualisiert. Es ist kein Abzeichnen und Nachmachen, sondern eine Art des Vereinnahmens, des Sich-zu-eigen-Machens. Allein die Übersetzung eines komplexen realen Bildes in Karin Elise Sturms klare, formal einfache Bildsprache, bringt die (bzw. eine) Essenz des Gesehenen zum Vorschein, verleiht einem oberflächlichen Fernsehbild plötzlich Tiefe und die Ahnung, dass sich hinter (fast) allem mehr als nur die sichtbare, polierte Oberfläche verbirgt. Beiwerk wird weggelassen – oder zur Hauptsache ernannt. In Sturms Reduktion auf grobe Linien liegt eine ungeheure Raffinesse. Ihre Strichführung ist spontan und dynamisch, es geht nicht um Perfektion, es geht um Fluss und Bewegung. Es geht nicht darum, „schön“ und „richtig“ zu zeichnen, sondern wahrhaftig und authentisch. Das Gesehene / der Eindruck / der optische Impulsgeber vermischt sich im Bild mit Vorstellung und Erinnerung, Vergangenheit und Zukunft, immer und jetzt, Phantasie und Wirklichkeit. Karin Elise Sturm plant ihre Bilder nicht, sie lässt sie entstehen und geschehen, möglichst losgelöst von einem bewussten künstlerisch-intellektuellen Wollen. Das Alltägliche wird surreal kombiniert mit Unerwartetem und Überraschendem, und mit den formelhaften, immer wiederkehrenden Symbolen versehen. Ursprünglich leicht Erkennbares wird schwer lesbar, bekommt eine traumartige, mitunter mysteriöse Anmutung, die beinahe an prophetische Vorahnungen denken lässt. Die Bilder sind eine Wucht, sie reißen mit, versehen zuvor mitunter Oberflächliches mit Tiefe und zeugen von einer unbändigen schöpferischen Kraft.
Wir leben in einer Gesellschaft der optischen Oberfläche. In einer Zeit der Selbstinszenierung und -optimierung, von Schönheits-OPs und Beautyfiltern auf jedem Smartphone. Der Schein ist oft wichtiger ist als das Sein – innere Leere ist weniger schlimm als eine leere Timeline. Auf Social Media sind wir umgeben von (scheinbar) perfekten Leben in perfekten Bildern, in Film, Fernsehen, Werbung sowieso – es gibt keine Fehler (mehr). In dieser perfektionierten Welt sind Sturms Bilder eine Wohltat in jeder Hinsicht. Sie zeigen, dass auch das Unperfekte eine Daseinsberechtigung hat, dass in Authentizität und Echtheit eine Kraft und Faszination liegt, die jede perfekte Oberfläche verblassen lässt. Sturm pickt sich Details aus unserer übersättigten, glatten optischen Umgebung, die uns nur allzuoft zu passiven Konsumjunkies werden lässt, und schenkt ihnen eine Tiefe und Bedeutsamkeit, die heilsam ist. Sie zeigt uns, dass wir mit unserer Umwelt aktiv, kreativ und schöpferisch umgehen können. Zwischen Netflix, New York und Nähmaschine spannt Karin Elise Sturm ihren Kosmos aus Phantasie, Impulsivität, Mut, Authentizität, Freiheit und Unperfektion.
(Clara Kaufmann)